Kreuzschnabel und Rotkehlchen

12. September 2023 ·

Die deutsche Volkssage weiß mancherlei zu Lob und Liebe der Vögel unter dem Himmel zu erzählen, darin ein guter frommer Sinn sich ausspricht, wie man auch aus folgendem entnehmen kann:

Den Kreuzschnabel hat die Sage dem Herrn Christo geheiligt. Weil er um die Weihnachtszeit brütet, so sagt man, er trage sich mitten im Winter zur selben Zeit mit mütterlichen Sorgen, in welcher St. Josef und der Jungfrau Maria das neugeborenen Gotteskind in Hut und Pflege gegeben ward.

Als unser lieber Herrgott am Kreuze hing, habe dieser Vogel mit ihm herzliches Mitleiden gehabt und sich viel Mühe gegeben, um mit seinem Schnabel die grausamen Nägel herauszuziehen, womit der Erlöser ans Kreuz geheftet war. Er vermochte es aber nicht, und über der vergeblichen Anstrengung habe er seinen Schnabel kreuzweis ganz verbogen, wie noch heutigentages an ihm zu sehen sei. Seitdem hafte an diesem Vogel eine besondere Gunst des Himmels; in ein Haus, worin man einen Kreuzschnabel hält, schlage niemals ein Blitz ein; auch von mancherlei Krankheiten bleiben die Inwohner verschont.

Auch dem Rotkehlchen wird nachgesagt, daß es mit dem leidenden Erlöser Erbarmen gehabt habe, wie diesem lieben Vögelchen wohl jeder zutraut, der ihm einmal in seine milden, treuherzigen Augen gesehen. Es sei um die Nägelwunden Jesu hin und her geflattert und habe sich ängstlich bemüht, das blutende Opfer loszumachen. Davon rühre es her, daß das Gefieder um die Brust noch rot ist. Aber es hat ihn auch müssen hängen und sterben lassen. Seitdem kann das Rotkehlchen keinen toten Menschen mehr sehen. Es gleicht dem Tobias, der die Erschlagenen und Toten seines Volkes auf den Gassen aufhob und begrub. Wenn irgendwo ein Erschlagener im Wald liegt, von dem niemand weiß und zu dem niemand kommt, daß er ihn aufhebe und bestatte, so fliegt es herzu und legt ein Zweiglein oder einige Blätter auf sein Gesicht, um ihn, so gut es kann, zuzudecken. Welch große Liebe in dem kleinen Vögelchen!

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