Eine Geschichtsstunde bei Prof. Kohlmeier, 1900

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Mitgeteilt von einem aufmerksamen Schüler

Setzt Euch!

Nun, wie steht´s heute mit der Repetition? Habt Ihr studiert? Das Ja klingt mir sehr zaghaft. Ihr sprecht überhaupt manchmal so mikroskopisch, daß ich kein Wort verstehe. – S., so mache doch einmal die Fenster zu, ganz zu! Oben geht dann der Lärm hinaus. Nun, wer meldet sich freiwillig zum Examen?

Wie F., du nicht? Natürlich, der Bursche faulenzt mit einer eisernen Konsequenz. Du hast auch wieder einen völlig ungenügenden Aufsatz gemacht. Da sieht es mit der Versetzung äußerst scheu aus. Was redest Du da für einen unlogischen Kohl? Du hättest Dir alle Mühe gegeben? Diese Renomisterei* wollen wir nicht weiter auspressen; ich werde aber Deinem Vater noch mündlich darüber schreiben.

Heute will ich nun noch nicht repetieren, aber die ganze nächste Woche ist Geschichte. Macht Euch also spruchreif. Wer nichts kann und nichts weiß, erhält vier Stunden Arrest und im Zeugnis die Note „Wenig befriedigend“. Die Note „Nicht befriedigend“ gebe ich niemals; wozu soll ich Einem, dem der Kopf abgeschlagen ist noch eine Dose Arsenik geben? Schon „Im Ganzen genügend“ hat einen starken Beigeschmack nach negativer Säure.

Alle kann ich natürlich nicht darannehmen. Deshalb brauchst Du aber nicht zu grinsen; Du einfältiger Bursche da hinten, der Du dich vom Bettelbrot des Zurufens nährst; es kommen doch Alle daran.

Ich habe Euch in der letzten Stunde hingewiesen auf die Kämpfe der Römer mit den Germanen, die uns bereits zu Anfang des Schuljahres mehrere Jahrhunderte durch in Anspruch nahmen. Die Republik, die Eroberungsperiode der römischen Geschichte, neigte sich bereits ihrem Untergange mit Riesenschritten entgegen. Trotz verschiedener Attentate war es jedoch noch keinem gelungen, dauernd den Königsthron mit seiner Person zu verflechten. Da klopften im Jahre 112 germanische Völkerschaften an die Tore Italiens und begehrten Einlaß. Dieses erste Auftreten der Germanen war es, welches sporadisch den Todeskeim in das unermeßliche römische Weltreich trieb und ihm schließlich den Todesstoß versetzte.

H. rücke einmal auseinander, damit ich sehe, was der M. für ein dummes Zeug treibt. Das ist auch so Einer von Denen, die sich mit F. assimilieren können; du bist stark „rückwärts, Don Rodrigo“ (Zitat aus Herders Der Cid: „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo- deine Ehre ist verloren, Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo- stolzer Cid“)  gegangen. Doch lassen wir uns durch dieses kleine Intermezzo nicht von unserem Thema ablenken.

Das römische Reich hatte sich ausgedehnt, wesentlich radienartig in konzentrischen Kreisen, welche alle mit derselben unerbittlichen, mathematischen Genauigkeit wieder von der Peripherie aus zu demselben Mittelpunkt zurückkehrten und eben dadurch wesentlich zum Wachstum derselben beitrugen. Aus einer urbs war ein orbis geworden, dem erst hier im Norden die Brandmauer der Germanen ein Ziel setzten sollte. Doch ich will dieses Bild nicht zu Tode hetzen. Der Konsul Papirius Capito stand mit einem römischen Heere den Germanen gegenüber. Um sich ihrer zu entledigen, beschloß er, sie zu überfallen. Aber die Germanen bliesen in die Stierhörner, griffen zu den Schwertern und stimmten den Schlachtgesang an. Dieser war erst leise wie Zephyrgelispel, das über die Waldwipfel dahinsaust, bis es immer stärker und stärker und zuletzt zu einem reißenden Orkan wurde, der die Felsen entwurzelt. Und dieser Gesang hörte sich an wie das Geheul hungriger Wölfe, die in kalter Nacht um die Pfahlbauten sausen. Daher nannten die Römer diese Geheul „Ululatus“ (das Heulen). Wie Spreu wurden die von Furcht angefressenen Legionen auseinandergefegt und niedergehauen. Doch gelang es schließlich den Römern, dieser Gefahr die Spitze abzubrechen.

Inzwischen hatte das letzte Todesstündlein der Republik geschlagen und Augustus sich den Purpurmantel aufs Haupt gesetzt. Aber die Eroberungspolitik des Kaiserreiches litt glänzenden Schiffbruch in den Urwäldern Germaniens. Da brach mit dem Ende des vierten Jahrhunderts eine neue Aera an, die wir unter dem Namen der Völkerwanderung kennen. Diese Erscheinung, eigenartig in ihren innersten Elementen, trug dem Eroberungssinn der Völker des Nordens am meisten Rechnung, indem sie eine Reihe alter Volksstämme verschwinden, eine andere Reihe neuer aus dem Strudel der Zeiten emportauchen ließ.

Ja, die Völkerwanderung, das ist so eine Nuß, an der Ihr Euch die Zähne ausbeißen könnt, davon habt Ihr gar keine Ahnung. Da kamen ganze Volksstämme zu Fuß, zu Roß, zu Wagen lawinenartig herangebraust, Tod und Verderben bringend. Da hub dann in hellen Tönen das Sterbeglöckchen der Römer zu läuten an, bis endlich Odoaker sich den Königsmantel um die Schultern schwang und „finis Polonie“ sagte. „Das Ende Polens“  (Ausspruch vom poln. Oberbefehlshaber nach der verlorenen Schlacht bei Maciejowice 1794)- 40 Jahre später wurde ein Gemälde von Dietrich Monten so benannt-  Aufstand der Polen gegen die preuss. und russ. Besatzer)

H, hast du etwas zu sagen? –Nein? – Dann schweige still und gib acht, sonst sitzt du bei der Repetition da und hast die Zunge im Mund.

Doch soeben läutet´s. Sapienti sat. (Es bedarf keiner weiteren Erklärung für den Eingeweihten, für den Klugen genug)

Morgen ist statt Cäsar Geschichte. Ich werde dann die Völkerwanderung zu Ende führen; von nun an werde ich sie aber nicht mehr unternehmen. Auch werde ich Euch nicht mehr so weitläufige Fragen geben, die führen ab.

Wo steckt den nur der B.? – Wie? Der hat schon wieder Kopfweh? Wenn einer viel Kopfweh hat, so ist das ein Zeichen geistiger Borniertheit. Wenn ich außerdem jedesmal, wenn ich Kopfweh habe, zu Hause bleiben wollte, ich könnte das ganze Jahr hinterm Ofen hocken.

Also, nächste Woche unwiderruflich Repetition! Danach richtet Euch, sonst sitzt Ihr wieder da wie die Veilchen, hängt die Köpfe und wißt nichts.

Noch eins: Legt Euch in der Pause nicht so in Fenster. Wenn einer hinausfällt und den Hals bricht, will´s wieder keiner gewesen sein.

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