Man erinnert sich wohl noch der Schreckenszeit in London, in welcher Jack der Aufschlitzer sein Unwesen trieb. Der kolossale Polizeiapparat dieser ungeheureren Millionenstadt wurde bei Tag und Nacht aufgeboten, um des unheimlichen Gesellen, der sich das Morden zum Vergnügen machte, habhaft zu werden.

Aber Jack, der Aufschlitzer,
schien im Besitze einer Tarnkappe zu sein, die ihn dem aufgebotenen Detectivheer unerreichbar machte. Ja, Jack begann schließlich die Londoner Geheimpolizei förmlich zu necken, indem er ihr vor jedem neuen Mordattentat gewissermaßen ein Aviso zusandte, in welchem er ankündigte, daß man an dem und dem Tage, zu der und der Stunde in London wieder ein gemordetes Weib auffinden werde, mit dem berühmten, der Präzision eines Anatomen würdigen Verstümmelungsschnitt. Nur die nähere Angabe des Ortes schenkte sich Jack wohlweislich, und jedesmal, wenn das Aviso Jacks sich bewahrheitete, wurde der panische Schrecken, der sich der Londoner Frauen bemächtigt hatte, nur noch gesteigert. Die Aufschlitzerei Jacks nahm solche Dimensionen an, daß die Frauen ohne männlichen Schutz ihre Wohnungen zu verlassen sich nicht mehr getrauten.
Nun hat auch Wien seinen Aufschlitzer Jack. Am Stephanstage fand man in der Hammerlegasse in Ottakring eine jener Unglücklichen, die unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehen, Franziska Hofer, auf dem Diwan ihres Kabinetts tot auf. Der Oberkörper war völlig unversehrt, die Hände leicht in die Hüften eingestemmt. Am Unterleib klaffte jedoch eine furchtbare Wunde, so daß die Eingeweide frei lagen. Auf der Erde lag die mit einem kunstgerechten Schnitte exstirpierte Leber. Dieser Umstand deutete sofort darauf hin, daß ein Frauenmord vorliege, der allerdings mit einem gleichzeitigen Raubmorde zu konkurrieren scheint., denn der Mörder hatte auch die Mitnahme von allerdings geringfügigen Wertsachen nicht verschmäht.
Es ist begreiflich, welche Aufregung diese Schreckenstat, nicht nur in Ottakring und den angrenzenden Bezirken, sondern in ganz Wien hervorrief und mit welcher Spannung man in allen Kreisen der Bevölkerung, namentlich aber seitens der Frauen, die Aktionen der Polizeibehörde verfolgt. Doch ist es leider den rastlosen Bemühungen der Polizei, die unter der persönlichen Oberleitung ihres Präsidenten alles aufbietet, des furchtbaren Mordgesellens habhaft zu werden, bisher nicht gelungen, die Spur desselben zu entdecken. Tagtäglich werden Verhaftungen vorgenommen und verdächtige Personen ausgeforscht, doch konnten bisher Alle, auf die durch Begleitumstände, in einem Falle sogar durch die einem Racheakte entsprungene Anzeige ein Verdacht fiel, ihr Alibi nachweisen, und so erfreut sich denn der Lustmörder von Wien leider noch immer seiner Freiheit. Doch ist zu hoffen, daß es den rastlosen Anstrengungen der Polizei in Bälde gelingen wird, den unheimlichen Aufschlitzer auszuforschen und der gerechten Strafe zu überliefern. 1898
