Ein zweiter Frauenmord in der Sylvesternacht, 1899

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Der Frauenmörder Simon Schosteritz

Noch hatte sich die Bevölkerung der Residenzstadt nicht von den Schrecken des Mordes an dem Mädchen in Ottakring erholt, welches Verbrechen die Gefahr nahe gerückt erscheinen ließ, daß Jack, der Aufschlitzer, seine Tätigkeit von London nach Wien verlegt habe, als in der Sylvesternacht sich ein zweiter Frauenmord ereignete. Der Schauplatz des zweiten Frauenmordes war das Erdgeschoß des Hauses Landstraße, Untere Weißgärberstraße Nr. 32, das Opfer der Bluttat das Mädchen Anna Spilka, die dort als Afterpartei* ein Zimmer innehat, während die Küche von einem zweiten Mädchen namens Marie Ditmann bewohnt wird.

Maria Ditmann kam am Sylvesterabend gegen viertel zehn Uhr mit einem Manne heim und war nicht wenig erstaunt, als sie in der Küche einen fremden Mann ohne Kopfbedeckung erblickte. Der Mann kam ihr verdächtig vor, sie sah ihn scharf an, und der Fremde, dem es unbehaglich wurde, rief: „Jessas – ich hab´ meinen Hut vergessen!“ Damit stürzte er in das Zimmer zurück, holte seine Hut und wollte enteilen. In dem Augenblicke, da er die Tür öffnete, sah das Mädchen eine Frauengestalt auf dem Boden hingestreckt liegen, dachte sofort an den Frauenmord in Ottakring, erkannte, daß es die Spilka war, die dort in ihrem Blute lag, und lief mit den lauten Rufen: „Zu Hilfe! Mörder, Mörder!“ den Fremden kräftig zur Seite stoßend, auf die Straße hinaus.

Im Nu hatten sich zwanzig bis dreißig Personen angesammelt, die den flüchtenden Mörder umdrängten und ihm jeden Ausweg versperrten, so daß er nicht weit vom Hause der Tat festgehalten wurde und einen Akt der Lynchjustiz über sich ergehen lassen mußte. Nur das Einschreiten der Wache rettete ihn vor tödlichen Mißhandlungen durch die aufgeregte Menge. Man hieb auf ihn ein, stieß und trat ihn, verletzte ihn im Gesicht, am rechten Augenlid und an der Oberlippe und bearbeitete den Unhold, bis er aus der Nase blutend, ohnmächtig zu Boden sank. Wachmänner trugen ihn auf die nächste Sicherheitswache und telephonierten um die Rettungsgesellschaft, die ihn bald zur Centralstation abholte.

Indessen befaßte man sich mit dem Opfer der Untat. Anna Spilka wurde röchelnd in ihrem Blute gefunden. Sie lag entkleidet mit dem Gesicht zur Erde. Sie atmete schwer, und ihre Verletzung, eine tiefe Stichwunde am Halse, wurde von den Ärzten als absolut tödlich bezeichnet. Die Halsschlagader war durchgeschnitten. Am Halse waren Würgespuren und Hautabschürfungen mit Eindrücken von Fingernägeln sichtbar. Fünf Minuten, nachdem die Ärzte der Rettungsgesellschaft ihr Bemühen begonnen hatten, starb die Unglückliche.

Die polizeiliche Commission, die rasch im Haus erschien, stellte fest, daß Anna Spilka mit dem fremden Manne um dreiviertel 9 Uhr abends von der Straße nach Hause gekommen war. Das Paar war allein in der Wohnung, die Quartiergeberin weilte in ihrem Kämmerchen und merkte nichts von den unheimlichen Vorgängen. Der Täter lag bis Mitternacht in Bewußtlosigkeit auf der Centralstation der Rettungsgesellschaft, doch waren die Ärzte der Meinung, daß er die Ohnmacht simulierte.

Er ist ein junger Mann, etwa 20 Jahre alt, kräftig, breitschultrig, bartlos, mit markigem, knochigem Gesicht. Er trägt einen dunklen Anzug mit kurzem Rock, ein weißes Hemd (von der Firme Tureczek in Brünn) mit „A.H.“ gemärkt. Er hatte Arbeitsbücher auf die Namen Simon Schosteritz und Blas. Campos bei sich, doch ist, nach den Altersangaben in den Dokumenten zu schließen, der erste sein richtiger Name. Darnach wäre er der Selchergehilfe Simon Schosteritz, zu Ödenburg geboren, 20 Jahre alt. Der Verhaftete warf während der Escorte die Legitimationspapiere von sich, doch wurden sie von Passanten aufgehoben und der Polizei übergeben.

Wien am 5.1.1899

*Afterpartei: siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm

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