Die große Aviations­woche von Reims, 1909

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Lamberts Morgenausflug

Scherzzeichner haben uns schon vor zehn und zwanzig Jahren gern einen Zukunftshimmel voller lenkbarer Luftschiffe und Flugmaschinen gezeigt; mit etwas skeptischem Lächeln sahen wir diese Späße der „Fliegenden Blätter“, die Eroberung der Atmosphäre erschien gar noch so fern. Den Karikaturisten sinkt der spitze Griffel aus der Hand, der Zukunftshimmel hat sich plötzlich über uns aufgetan, aus dem Scherz ist Ernst geworden.

Über der Ebene von Bétheny nahe der Champagnerstadt Reims kreuzte die erste Luftflottille eines echten Jules Verneschen Traums; gleichzeitig sahen wir zwei Vertreter des „Leichter als Luft“, gelbe Mastodons, die Ballons „Colonel Renard“ und „Zodiac“, im majestätischen Kreisflug, umsurrt von einem Schwarm riesiger Leinwandmücken, den Repräsentanten des „Schwerer als Luft“, Mono- und Biplanen. Dieses neuartige, unbeschreiblich eindrucksvolle Bild wird sich allen Zeugen der historischen Tage von Reims unauslöschlich in die Seele eingeprägt haben.

Präsident Fallières auf der Tribüne

Jeder ahnte, erlangte die Überzeugung, daß der alte, phantastische Wunsch der Menschheit, es den Vögeln gleichzutun, erfüllt ist: die Flügel des Ikarus tragen uns Sterbliche der Sonne zu; der schnellste, bequemste und sicherste Weg führt die kommenden Generationen durch die Lüfte. Mögen manche Leute nach den Resultaten von Reims vielleicht behaupten, die Aviation stecke noch in den Kinderschuhen, oder sagen wir besser, in den Kinderflügeln, genügt es nicht schon, in dieser wahrhaft Großen Woche der Champagne bis zur Evidenz die Gewissheit erlangt zu haben, daß nichts mehr imstande sein wird, das Heranwachsen des Kindes aufzuhalten, den endgültigen Sieg über das Äthermeer zu verzögern? Die Tage, die wir durchleben, zählen in der Geschichte der Humanität, und solche Tage zu leben ist eine Lust.

Vor acht Jahren hatte die Ebene von Bétheny zum ersten Mal von sich reden gemacht. Damals läuteten die Glocken der ehrwürdigen Krönungskathedrale Karls VII. und der Jeanne d´Arc zu Ehren des Zaren Nikolaus II., dem Präsident Loubet hunderttausend Mann Truppen in glänzender Revue vorführen ließ. Die Bürger von Reims hatten an dem Menschen- und Geldzulauf Gefallen gefunden, und sie haben sehr schlau getan, ihr unübersehbar weites Manöverfeld für das erste Preisrennen der Aeroplane und Lenkballons herzurichten. Man muß es dem Organisationskomitee lassen, daß es sich auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt hat; es fehlte nicht an ausreichenden Verkehrsmitteln nach Bétheny, die Tribünen waren bequem eingerichtet und die Restaurants nicht weniger elegant und teuer als die vornehmsten im Bois de Boulogne. Für ein Aeroplanrennen braucht man mehr Platz als für ein Pferderennen.

General Valabrègne, Kriegsminister General Brun und der eng. General French

Vier hohe Spitzsäulen markierten den 10 km langen Flugkreis; nur Fahrten außerhalb der Signalmasten waren für das Streckenmaß gültig. Der Volksplatz benötigte ebenfalls viel Raum, da dort hunderttausend Personen für 1 Fr. ausgezeichnete und weder gegen Sonne noch Regen geschützte Stehplätze finden mußten. Aber in der endlosen Ebene von Bétheny verschwanden all diese Anlagen, und das Dorf von Schweizerhäuslein, in denen die Aeroplane untergebracht waren, sah so winzig aus wie eine Oasenansiedlung in der Wüste. Die „Stallungen“ der Flugmaschinen, in denen Tag und Nacht die Erfinder und ihre Mechaniker mit dem Nachprüfen der launischen Motoren beschäftigt waren, hatten alsbald wie die Stallungen der Rennpferde in Longchamp den Namen „pesage“ erhalten, und die Tribünengäste ließen sich nicht das Recht nehmen, hier zu lustwandeln und die Aviatiker einigermaßen in ihrer Bewegungsfreiheit zu behindern.

Major von Parseval bei der Aviationswoche

Obgleich die Witterung nicht gerade sehr günstig war, wurde ein erstaunlicher Toilettenluxus entfaltet – wenn die Große Woche der Champagne zu einer ständigen Institution werden sollte, dürften dafür ebenso Premierenkostüme zu beschaffen sein wie für die großen Renntage von Chantilly, Auteuil und Longchamp. Es wimmelte nur so von Prinzessinnen und Millionärinnen, und da das Komitee alles vorgesehen hatte, gab es hinter den Tribünen sogar einen Damensalon, in denen Schneiderinnen für etwaige Reparaturen sofort bereit waren. Der Präsident der Republik, die Minister, Prinz Albert von Belgien, englische Staatsmänner, General Frech an der Spitze einer Militärkommission und der deutsche Ballonerbauer Major von Parseval waren zugegen.

Leider wehten die Trikoloren der Tribünen gar zu fröhlich im Wind – der Wind ist der Feind des Aeroplans, solange dieser noch nicht gelernt hat, sich seiner zu bedienen und wie das Segelschiff dank ihm, mit ihm oder gegen ihn, d.h. ihn als treibende Kraft benutzend, zu fliegen. Doch gerade die wenig vorteilhaften atmosphärischen Bedingungen geben den Erfolgen, die in Reims erzielt wurden, eine erhöhte Bedeutung. Mitunter blies die Brise, daß die Zuschauer auf den Tribünen sich die Hüte festhalten mußten, aber die Aviatiker setzten ihren Kampf mutig fort.

Paulhan umkreist das Ziel bei seinem Rekordfluge

Ein Windstoß trieb Paulhan mit seinem Doppeldecker „Boisin“ aus der Fahrtlinie; er beschrieb einen Kreis und kehrte in die Linie zurück, um den Signalmast wie vorgezeichnet zu umfliegen. Latham auf seinem Eindecker, der am meisten der Vogelgestalt gleicht und darum die größte Sympathie des Publikums genießt, legte seine ganze Reise zum Teil unter strömendem Regen zurück. Wirklich, das waren Leistungen, die bekundeten, daß man schon über die erste Sportphase hinaus ist und in die Phase der praktischen Verwendung eintreten kann. Zweifellos wird aber noch lange der Aeroplan das Sportinteresse der Menge fesseln, das das Automobil jetzt zu verlieren im Zuge ist. In Reims wurde die Wettlust schon geweckt; jeder hatte seinen Favoriten, und wenn auch die fachmännischen Kenntnisse der meisten nicht beträchtlicher waren als die vieler Besucher von Pferderennen, so wurden doch die Vorzüge dieses oder jenes Flugapparates mit Leidenschaft bestritten. Die Fachleute selbst sind über den Ausfall der verschiedenen Rennen einigermaßen perplex.

Latham in voller Fahrt

Monoplan oder Biplan, das ist die Frage. Der Fall steht ähnlich wie zu Beginn der Ära des Velocipeds. Damals wußte man auch nicht so rasch, ob man dem hohen Einrad oder den niedrigeren Zweirad den Vorzug geben sollte. Der Unterschied zwischen den Ein- und Zweideckersystemen ist außerordentlich groß. Das erstere scheint der Natur abgelauscht, das letztere ein Mechanismus, den der menschliche Verstand ersann. Wenn die Natur gerecht ist, wird sie in Zukunft dem Monoplan zum Sieg verhelfen. Wir wünschen es vom ästhetischen Standpunkt, damit der Mensch sich nicht gar zu sehr als plumper Eindringling im Himmelsrevier unter Schmetterlingen, Vögeln und – Engeln ausnimmt. Die Annalen der Fluggeschichte aber werden verzeichnen, daß sich in Reims Natur und Kunst noch die Waage hielten. 

Henri Farman, der Eroberer des Großen Preises

Der Zweite, Latham, der französisch naturalisierte Sohn eines Engländers, hatte mit seinem Monoplan, der zwei berühmte Bäder im Ärmelmeer genommen hatte, 25 000 Fr. für eine Strecke von 154 km und eine Zeitdauer von 2 Stund 18 Min. erhalten; niemand konnte bestreiten, daß der Eindecker viel kühner flog als der fliegende Apparat.

Der Große Preis der Champagne, der zu wundervollen Rekordflügen führte, vereinigte Zellenflieger und Eindecker brüderlichst. Der Engländer Farman, der seit Jahren in Frankreich Flugversuche machte und ein ähnliches Modell wie die Wrights erfand (ohne die Abfahrtsschiene), gewann mit seinem Zweidecker den ersten Preis, 50 000 Fr.; er legte eine Strecke von 180km in 3 Stund. 5 Min. zurück und besaß danach noch genügend Essenzvorrat, um noch weitere 50 km zu fahren. Das war ein prachtvolles Resultat. Aber die Fahrt war nicht elegant; Farman erhob sich nur etwa 4 m über den Erdboden. 

Der Dritte war abermals ein Zweidecker des dem Farmannschen verwandten Voisinischen Systems: Paulhan steuerte bei ähnlich schlechter Witterung wie Latham; doch in der Eleganz des Fluges, der 133 km maß und 2 Stund. 43 Min. dauerte, war er Farman kaum über. Dagegen hatte der Vierte, Graf Lambert, es auf seinem Wright-Flieger nicht schwer, mit der „Formgewandtheit“ und „Koketterie“ der Zweidecker wieder einigermaßen auszusöhnen; Lambert flog in 1 Stund. 56 Min. über 116 km.

Blériot in voller Fahrt

Die Schnelligkeit der Wright-Apparate kann ihnen nur Freunde gewinnen; besonders Lefebvre leistete sich auf einem von ihnen in Reims wahre Akrobatenspäße, die das Publikum in Aufregung versetzten. Alle Sieger im Großen Preis der Champagne legten Strecken zurück, die die Entfernung von Paris nach Bétheny übertreffen; kein Expreß würde sie überholt haben. Neben diesen Dauerfahrten dünkt schon der Flug Blériots über den Kanal, der noch vor wenigen Wochen die Welt in Begeisterung versetzte, als eine kurze Promenade. Blériot hätte es sehr gerne gesehen, wenn Latham den Großen Preis gewonnen hätte, eine Revanche für die unverdiente Niederlage in Calais; er selbst bestritt dem befreundeten Konkurrenten des Monoplansystems den Dauerrekord nicht, den Farman im letzten Augenblick zur allgemeinen Überraschung holte. Da Blériot die schnellste Kreisfahrt von 10 km erreichte und Latham moralisch über Farman triumphierte, hat der Monoplan immerhin nicht minder gut abgeschnitten als der Biplan.

Mr. Cockburn

Die lenkbaren Luftschiffe, die ebenfalls einen Schnelligkeitspreis über der Rennstrecke zu bestreiten hatten, erschienen trotz ihres Umfanges neben den viel flinkeren Aeroplanen ganz klein! Der „Colonel Renard“ des bekannten Obersten, der den Automobilzug für Kriegszwecke erfand, und der „Zodiac“ des Grafen de la Baulx können zwar nicht als die besten Vertreter dieser Fliegergattung gelten – sie sind nur arme Waisenknaben gegen die „Zeppelins“! – aber ihre Leistungen sind doch nicht sehr viel schwächer als die der meisten französischen Lenkbaren, und sie stehen, in Anbetracht des ganzen Aufwands, den sie an Gasfüllung und Motorenbetreib erfordern, bereits hinter dem der Flugmaschinen zurück. Der „Colonel Renard“ kostete 150 000 Fr., ein Aeroplan zwischen 10 000 und 20 000 Fr. Es wird nicht lange dauern, dann befördert der Monoplan oder der Biplan so viele Personen, wie der „Colonel“ oder ähnliche unstarre Ballons zu tragen vermögen; er befördert sie rascher, billiger und sicherer. Die Woche von Reims hat zweifellos die meisten Fachleute davon überzeugt, daß die Zukunft nicht den „Leichter als Luft“, sondern ausschließlich den „Schwerer als Luft“ gehören wird. Und das ist das bedeutende Fazit, das wir aus den Erfolgen des ersten Rendezvous der Luftmaschinen ziehen zu müssen glauben.

Carl Lahm

Zierelement

Kurz nach diesem Großereignis in einer anderen Zeitung:

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