Die Hygiene auf dem Lande, 1911

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Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß fast überall auf dem Lande die Hygiene immer noch als ein „Mädchen aus der Fremde“ angesehen wird. Selbst ihre einfachsten Regeln und Vorschriften bürgern sich nur sehr schwer ein. Diese Unwissenheit und Gleichgültigkeit beeinflusst naturgemäß auch die Krankheits- und Sterblichkeitsziffern.

Nach einer Statistik des Reichsversicherungsamtes kommen in der Land- und Forstwirtschaft auf

1000 Kranke im Alter von 22 bis 24 Jahren 371 männliche, 284 weibliche Tuberkulosefälle, auf

1000 im Alter von 25-29 Jahren 339 und 331 und auf

1000 im Alter von 30-34 Jahren noch 277 und 166 Tuberkuloseerkrankte.

Diese hohen Zahlen müssen auffallen. Umso mehr, da sie nicht einmal erschöpfend sind. In Wirklichkeit sind die Zahlen der an dieser Seuche Erkrankten noch viel größer. Und das, obgleich man glauben sollte, daß auf dem Lande die natürlichen Bedingungen für Tuberkulose so ungünstig wie möglich sind.

Man sagt ja immer, diese Krankheit komme nicht hin, wo freie Luft und Sonnenschein genügend vorhanden sei. Daran fehlt es auf dem Lande nicht, allerdings nur so lange, als man auf der Dorfstraße bleibt und nicht die Wohnräume oder gar die Schlafräume betritt. Ist man in dieser Beziehung nicht wie ein Landarzt abgehärtet und steckt seinen Kopf in ein solches Gemach, so packt einen manchmal das Gefühl, als müsse man ohnmächtig werden. Es gibt Dörfer, in denen man jedem eine hohe Prämie zusichern könnte, der ein offenes Fenster in einem bäuerlichen Wohnhause findet.

Wird zu Kirmes- oder Kindstaufzeiten der Tabaksqualm einmal so dick, daß man ihn wie Schneeflocken zusammenballen könnte, oder wie das Sprichwort lautet, „daß man nicht mehr mit dem Säbel durchhauen kann“, so wird vielleicht einmal die Stubentür aufgemacht, aber gewiss kein kräftiger Durchzug entstehen könne!

Der Bauer fühlt sich in Wind und Wetter wohl, sobald er in Gottes freier Natur ist; sitzt er jedoch in seiner Stube, so liebt er festen Verschluss. Er glaubt oft noch daran, daß die Nachtluft giftig sei und alle bösen Krankheiten bringe. Das Fenster hat er nicht, um es zu öffnen, sondern nur um eine Leine an dem oberen Wirbel zu befestigen und durch die Stube zu ziehen, damit die Frau die Wäsche bequem trocknen kann. Ein offenes Fenster ist schwer zu erreichen und manche Ärzte führen einen förmlichen Kampf, um frische Luft in die Bauernstube zu bringen. Der Stärkere in diesem Kampf ist meistens nicht die Wissenschaft, sondern die alte Gewohnheit der Dörfler.

Ähnliche Besorgnisse, wie das weitgeöffnete Fenster erregt bei vielen Landleuten beiderlei Geschlechter das Badewasser. Als Schulkind hat man sich vielleicht auch im Dorfpfuhl getummelt, um aus diesen schmutzigen Pfützen als Mohr wieder herauszukommen, aber bei gesetzten Jahren und nun gar im Alter heißt es: „Nur kein Wasser an den Leib!“ Höchstens den Kopf bis an die Schultern und den Arm bis an den Ellenbogen, aber weiter ist es nicht nötig. Auch sieht es ja der Bauer nicht gern, wenn in seinem Wasserlauf oder Teich gebadet wird und überdies ist ja das Baden im Freien meistens bei Strafe verboten!

Weniger Anlass liegt vor, auf dem Dorfe über die Kleidung vom hygienischen Standpunkt zu sprechen. In dieser Beziehung ist die Stadt eine größere Sünderin.

Das der Bauer seinen dicken Schafspelz in der Schenke auch hinter dem heißen Ofen nicht auszieht, hat keine Gefahr. Er meint, daß ein Pelz, der gegen Kälte schützt, auch gegen Wärme gut ist und den Körper gewissermaßen in gleichmäßiger Temperatur erhält, wie etwa die dicken Mauern das Innere eines alten Bauernhauses. Schlimm steht es mit dem allerjüngsten Nachwuchs des Dorfes.

Er hat, wie übrigens auch in der Stadt, unter dem allgemeinen Umstand zu leiden. Gegen ererbten Unsinn wird in den Dörfern gerade auf dem Gebiete der Kinderpflege oft jede hygienische Nahrung und alle ärztliche Wissenschaft täglich zuschanden, mehr noch als in der Stadt. So kommt es, daß manches Dorfkind schon in der Wiege zum halben Krüppel gemacht oder arg an seiner Gesundheit geschädigt wird.

Die Frau des Bauern ist vielfach im wahrsten Sinne des Wortes einem Lasttier vergleichbar. Was ihr alles aufgepackt wird, ist städtischen Modedamen schwer begreiflich. Haus- und Viehwirtschaft, die Gartenbestellung, der Verkauf von Milch, Butter und Geflügel ist oft ihr Amt. Auch in der Erntezeit muß sie auf dem Felde fleißig mitzugreifen. Nach ihr kommt zuerst die Pflege von Feld und Vieh und zuletzt erst der Mensch. Hält man das fest, so begreift man, daß es mit den Vorzügen der Bäuerin als Hausfrau oft recht übel bestellt ist.

Allerdings läßt es sich nicht verkennen, daß derartige Verhältnisse in manchen Gegenden bereits der Vergangenheit  angehören. Namentlich das aufblühende landwirtschaftliche Genossenschaftsleben hat neuen Geist in die Dörfer gebracht. Sein Einfluß trifft nicht nur das rein Wirtschaftliche, sondern erstreckt sich auch auf das allgemein Menschliche, auf die Gesamtkultur des Dorfes. Mit der modernen Wirtschaftmethode, mit Maschinen und ökonomischen Fortschritten zieht ein neues Denken und Empfinden in die Dörfer ein.

Alte Gewohnheiten werden als Torheiten erkannt; man lernt vergleichen und sich anpassen. So kommt mit dem neuen Geist auch die Hygiene ins Dorf und hier und da wird sie heute schon nicht mehr als „Mädchen aus der Fremde“ betrachtet. Aber das sind noch Ausnahmen. Eine gute Weile wird es wohl noch dauern, ehe man die Debatte über das angeführte Thema als gegenstandslos schließen kann.

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