Etwas vom Steinkohlenteer 1889

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Wer sollte es der schmierigen, schwarzen Masse, welche Teer genannt wird, ansehen, welche Fülle der verschiedenartigsten Stoffe aus ihm bereitet werden. Und doch wird aus demselben nicht nur Benzin und Karbolsäure, Pech und Asphalt, sondern auch die glänzenden Anilinfarben, gegen deren Farbenpracht selbst das Gefieder tropischer Vögel erbleichen muß, sowie noch eine große Anzahl anderer interessanter Produkte hergestellt.

Bekanntlich wird der Teer als ein Nebenbestandteil bei der Leuchtgasfabrikation aus Steinkohlen erhalten. Letztere werden in den sogenannten Gasanstalten in tönernen Rohren (Retorten) unter Luftausschluß erhitzt oder, wie der Kunstausdruck lautet, „trocken destilliert“. Die Produkte dieser trockenen Destillation sind teils gasförmige, unter denen das Leuchtgas der hervorragendste ist, teils feste, d.h. die in den Retorten zurückbleibende Kohle, teils endlich flüssige, von denen der Teer die vorhin erwähnten, technisch wichtigen Substanzen enthält. In viel größeren Mengen eben erhält man diese Stoffe, wenn man die Steinkohlen nicht bei so hoher Temperatur, wie es in den Gasanstalten geschieht, der Destillation unterwirft. Der so gewonnene Teer ist von der größten wirtschaftlichen Bedeutung. Unter den daraus durch Destillation gewonnenen Körpern nimmt Benzol die erste Stelle ein. Ein mit anderen fettlösenden Substanzen vermischtes Benzol ist das sogenannte Fleckwasser oder Benzin. Das Benzol ist eine der interessantesten chemischen Körper, von dem sich eine ganze lange Reihe von anderen Verbindungen, welche wegen ihres meist durchdringenden Geruches „aromatische“ genannt werden, abgeleitet. Wird z.B. Benzol mit einem Gemisch von Salpetersäure und Schwefelsäure behandelt, so entsteht Nitrobenzol, eine schwach gelbliche Flüssigkeit, die einen dem Bittermandelöl ähnlichen Geruch besitzt und daher als „künstliches Bittermandelöl“ zur Parfümierung der Mandelseife benutzt wird. Läßt man auf diesen Körper Essigsäure und Eisenteile (wobei Wasserstoff entsteht) einwirken, so erhält man das Anilin, den Ausgangspunkt für die Darstellung der bekannten Farben. Das Anilin kann aber nicht im reinen Zustande auf die Farbstoffe verarbeitet werden, sondern muß mit einem ähnlich konstituierten Körper, dem Toluidin, welches gleichfalls ein Abkömmling der Produkte der trockenen Destillation des Steinkohlenteers ist, vermischt sein. Dieses Gemenge, Anilinöl genannt, wird dann mit schwach oxidierenden Substanzen, meist Arsensäure oder dem eben genannten Nitrobenzol, behandelt, wodurch Rosanilin gebildet wird, das, mit Salzsäure behandelt, den am längsten bekannten und für die Gewinnung aller anderen als Ausgangspunkt dienen Anilinfarbstoff, das Fuchsin oder Anilinroth, bildet.

Ein sehr bekannter, aus dem Steinkohlenteer hergestellter Körper ist die Carbolsäure. Sie bildet in reinem Zustande eine farblose, feste Substanz, die sich jedoch an der Luft leicht rötlich verfärbt. Die Lösung der Carbolsäure in Wasser ist ein sehr bekanntes Desinfektionsmittel. Läßt man auf Carbolsäure Salpetersäure einwirken, so entstehen gelbe, glänzende Kristalle von Pikrinsäure, welche zum Gelbfärben von Seide und Wolle eine ausgedehnte Anwendung findet. Die Salze der Pikrinsäure sind explosiv, der als Melinit bekannte, in Frankreich neuerdings geprüfte Sprengstoff ist wohl eine Mischung von Pikrinsäure und Kollodium.

Aus der Carbolsäure (oder vielmehr aus dem carbolsauren Natrium) wird durch Überleiten von trockener Kohlensäure bei 100 Grad Salicylsäure (salicylsaures Natrium) erzeugt. Diese von Prof. Kolbe in Leipzig gemachte Entdeckung hat die fabrikmäßige Darstellung der als fäulnis- und gährungshindernden Säure möglich gemacht. Sie sowohl wie ihr Natriumsalz haben in der Medizin (gegen Gelenkrheumatismus, in der Chirurgie) und im Haushalte (zum Konservieren von Fleisch, Milch, Butter) eine ausgedehnte Anwendung gefunden.

Während nun die genannten, sowie auch die als Asphalt und Pech bezeichneten Stoffe längere Zeit schon bekannt waren, sind in den letzten Jahren eine Anzahl von Substanzen aus dem Steinkohlenteer hergestellt worden, welches unser hohes Interesse in Anspruch nehmen. Bisher war das Chinin, jenes Alkaloid in der Rinde der Chinabäume, das einzig bekannte Mittel gegen Fieber. Aus dem Steinkohlenteer sind aber neuerdings zwei Antipyretika dargestellt worden, welche eine wichtige Bereicherung unseres Arzneischatze bilden. Beide Körper werden nunmehr in verschiedenen chemischen Fabriken in großen Mengen hergestellt. Die Wirkung ist eine ebenso sichere und ebenso lange andauernde, wie die des Chinins; sie werden von manchen Kranken sogar besser vertragen, als das Chinin, während dies bei anderen nicht der Fall ist. Sie können jedoch keinesfalls das Chinin ersetzen, da sie bei periodisch wiederkehrenden Fiebern (Wechselfieber) keine Wirkung tun.

Vorhin ist schon eines aus Steinkohlenteer hergestellten Parfums, des künstlichen Bittermandelöls, Erwähnung getan. In letzterer Zeit ist aber noch ein anderer Wohlgeruch daraus gewonnen worden, nämlich jener, dem Waldmeister und dem frischen Heu den eigentümlichen Duft verleihende Körper, das Cumarin. Es wird erhalten durch Einwirkung wasserfreien Essigs (Essigsäureanhydrit) auf das vorhin bereits genannte salicylsaure Natrium. In der Parfümerie ist es unter dem Namen „extract of newmoon hay“ (Auszüge aus frischgemähtem Heu) eingeführt.

Der wunderbarste, letzthin aus Teer gewonnene Körper ist das Saccharin, welches an Süßigkeit alle bisher bekannten Substanzen weit übertrifft, z.B. mehr als 200 Mal süßer als Rohrzucker ist, so daß ein Krümelchen Saccharin zur Süßung einer Tasse Kaffee genügt. Es ist dies für den menschlichen Körper völlig unschädlich und wird vielleicht im Haushalte bald eine hervorragende Rolle spielen. Selbstverständlich können so geringe Mengen der Substanz nicht zur Ernährung beitragen, wie es der Zucker tut. Eine ganz besondere Bedeutung verspricht man sich vom Saccharin bei Diabetes (Zuckerharnruhr), wo zuckerhaltige Nahrung verboten ist und daher dieser Körper geeignet sein möchte, statt des Zuckers als Versüßungsmittel zu dienen.

So ist den der Steinkohlenteer ein Körper, der nicht nur zur Herstellung von Asphaltpflaster und Dachpappe dient, sondern aus der Konservierungs- und Explosivstoffe, die glänzendsten Farben und schönsten Wohlgerüche bereitet werden und aus dem sich sogar Substanzen herstellen lassen, welche den Zucker an Süßigkeit vielfach übertreffen. Kn.

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